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Wie ich den heiligen Berg Kailash in Tibet umrundete:

Es ist erstaunlich, dass der Kailash hierzulande kaum bekannt ist, obwohl er für ein Fünftel der Weltbevölkerung heilig ist. Bis heute hat ihn niemand bestiegen. In seiner Umgebung entspringen vier bedeutende Flüsse, die ganz Südasien versorgen: der Brahmaputra, der Indus, der Satluj und der Karnali, der in den Ganges mündet.

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Die Umrundung des Kailash – 54 Kilometer auf der so genannten Kora – gewährt nicht nur einen tiefen Einblick in die tibetische Denkweise, sondern soll laut Volksglauben auch von allen Sünden reinigen.

Der Ruf des Kailash hat mich 18 Jahre lang begleitet

Umrundung des Kailash

Orte, an denen Menschen Außergewöhnliches suchen, faszinieren mich. Doch die Abgeschiedenheit, die bürokratischen Hürden und die Corona-bedingten Reisebeschränkungen hielten mich bislang ab. Seit Januar 2024 ist es für Deutsche nun möglich, visumfrei nach Tibet zu reisen.

Doch um zum Kailash zu gelangen, muss ich eine beschwerliche Reise von Lhasa bis an die Grenze zu Indien und Nepal unternehmen – 1.300 Kilometer über eine baumlose, staubtrockene Hochebene. Unterwegs verliere ich schnell den Überblick über die Polizeikontrollen, die oft stundenlang dauern. 

Interessant zu wissen

Tibet liegt in Zentralasien auf dem Hochland von Tibet und gehört politisch zur Volksrepublik China, wo es als Autonome Region Tibet verwaltet wird.

Meine „Tibet-Erlaubnis“ spielt dabei eine wichtige Rolle, ein Dokument, das ich Wochen vorher beantragen musste. Auf der Rückseite wird mir geraten, eine entspannte Haltung zu bewahren: „Please keep a relaxed and happy mood!“.

Und dann stehe ich endlich vor dem Berg – ein überwältigendes Gefühl. Ich bin in Darchen, dem Ausgangspunkt der Umrundung, und damit fast auf der Höhe des Montblanc.
Bergziege vor Bergpanorama

Ein mystischer Ort, an dem mein Rechtschreibprogramm mir ironisch vorschlägt: „Meinen Sie: Drachen?“. Es würde mich nicht überraschen, wenn hier ein solches Wesen vorbeiflöge, ausgehend von der schneebedeckten Pyramide, die direkt neben dem Dorf aufragt.

Der erste Tag

Am ersten Tag der Umrundung kämpfe ich um jeden Atemzug, während akklimatisierte, siebzigjährige Tibeterinnen mit ihren Enkeln an mir vorbeiziehen.

Bei strahlendem Sonnenschein klettert das Thermometer auf zwanzig Grad Celsius, doch sofort darauf bringt der Himmel Schnee. Stündlich ziehe ich meine Jacke an und wieder aus.

Die Hingabe der Wanderer übertrifft alles, was ich bisher erlebt habe. Während einige „westliche“ Abenteurer mit modernster Ausrüstung unterwegs sind, sind die wahren Pilger die Tibeter in ihren abgetragenen Kleidern, ausgestattet mit Glauben, Leidensfähigkeit und unerschütterlichem Vertrauen. Viele von ihnen vollziehen die Kora in einem rituellen Akt der Niederwerfung: Sie legen sich flach auf den Boden, gehen drei Schritte vor, verbeugen sich und wiederholen den Vorgang, während sie unablässig beten. Sie benötigen drei Wochen für ihre Umrundung, während ich mich schon beim ersten Windstoß unwohl fühle.

Beginn der Umrundung

Trotzdem spüre ich die Kraft des Kailash. Mal schwebt sein Gipfel in den Wolken, mal leuchtet er so strahlend, dass ich versucht bin, ihn berühren zu wollen. Auf der gesamten Pilgerrunde ist der Kailash mein ständiger Begleiter. Durch die Umrundung zeigen wir ihm den gebührenden Respekt. Er war lange vor uns hier und wird es auch bleiben, wenn unsere Körper zu Staub zerfallen sind.

Nach gut vier Stunden übermannt mich das Kopfweh. Die Sonne ist zu hell, mein Herz schlägt wild und der Boden unter meinen Füßen wankt. Die Farben der Gebetsfahnen und der Gesang der Gläubigen vermischen sich in einem ohrenbetäubenden Rauschen. Ich setze mich auf einen Felsen und bekomme von jemandem einen Becher Buttertee angeboten – eine fettige Mischung aus gesalzenem Yakbutter und Tee. In Tibet trinken das selbst die Kinder zum Frühstück.

Top-Tipp

Damit der Körper sich an große Höhen anpassen kann und es im schlimmsten Fall nicht zur Höhenkrankheit kommt, ist eine langsame Akklimatisierung die beste Methode.

Kurze Zeit später fühle ich mich bereit, weiterzugehen, muss aber alle zehn Minuten pausieren. Plötzlich überkommt mich Panik: Ich fühle mich gefangen auf dieser endlosen Hochebene. Mit Mühe erreiche ich mein Ziel für den Tag, eine Baracke, die jemand ironisch als „Hotel“ beschildert hat. Ich ziehe alles an, was ich dabeihabe, denn selbst im Inneren sind es minus zwanzig Grad. Doch schließlich finde ich Schlaf, bis mich düstere Gedanken wecken: Morgen steht der Dolma-La-Pass, die höchste Stelle der Umrundung, an. Werde ich das schaffen? Werde ich die Gefahren rechtzeitig erkennen?

Der nächste Morgen

Das

Unruhig stehe ich auf und trete hinaus. Vor mir erhebt sich der Kailash, massiv und unbestechlich. Ich fühle, dass er mir eine Aufgabe stellt. Hier gibt es keinen Handyempfang und keinen, der mich im Zweifel vom Berg holt. So werde ich mir meiner Zerbrechlichkeit bewusst, die mir hilft, das Leben neu zu schätzen.

Ich darf mich der Kora hingeben und eine Kraft spüren, die mich, wenn alles gut läuft, auffängt. Dafür bin ich hier, und darauf habe ich 18 Jahre gewartet. Dennoch ist es für einen „Westler“ keine leichte Aufgabe!

Am nächsten Morgen zeigt sich der Berg freundlicher, sein Gipfel strahlt rotgelb in der aufgehenden Sonne. Das betrachte ich als gutes Omen und zwinge mich, langsam einen Schritt vor den anderen zu setzen. Der Weg führt steil nach oben. Mehrmals rutsche ich auf dem gefrorenen Boden aus und muss zurückklettern. Doch ich lasse los: Ich vergesse die Zeit und den Weg, lasse mich von den Wolken und der Sonne treiben, während tibetische Satzfetzen um mich herum flirren. Schließlich erkenne ich, dass ich die heiligste Stelle der Kora erreicht habe – bei den obligatorischen Gipfelfotos strahle ich wie ein Honigkuchenpferd.

Es folgt ein sechsstündiger Abstieg und eine weitere rustikale Übernachtung, bevor ich in ein weitläufiges Tal zurück nach Darchen gelange. Am Wegrand entdecke ich immer wieder Steine mit der Beschwörungsformel „Om Mani Padme Hum“, die jemand über den Pass getragen hat. Der Kailash grüßt freundlich von rechts.

Er hat mir viel gegeben, mich neu verankert und mir geholfen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wahrscheinlich ist das, was wir in unserem hektischen Alltag am meisten benötigen. Doch dieser Berg hat mir auch eine Grenze aufgezeigt: In diesem Leben werde ich wohl nicht mehr höher als 5.698 Meter steigen.

Und das muss ich auch nicht. Der Berg ist jetzt in mir.

Reiseinformationen

Anreise: Über Lhasa oder Kathmandu. Seit Januar 2024 ist für Deutsche ein Aufenthalt in China bis zu zwei Wochen visumfrei möglich. Für Tibet wird eine Sondererlaubnis benötigt, die von den meisten Touranbietern bereitgestellt wird oder online einige Wochen im Voraus beantragt werden kann.

Beste Reisezeit: Mai/Juni, insbesondere zum Saga Dawa Festival. Im langen tibetischen Winter sind viele Strecken unpassierbar.

Touranbieter:

Ablauf: Ein Gabelflug Lhasa/Kathmandu wird empfohlen, um alle Highlights mitzunehmen. Zu den Höhepunkten gehören der Potala-Palast in Lhasa, die Klöster Drepung und Sera, die Metropole Kathmandu und das Everest Base Camp. Die mehrtägige Anreise erleichtert die Akklimatisierung. Die Umrundung selbst ist 54 km lang und dauert in der Regel drei Tage.

Standards: Auf der Bergumrundung sind Unterkünfte einfach. Typische Speisen sind Tsampa (Gerstenbrei) und Buttertee. In Darchen sowie größeren Städten wie Lhasa und Shigatse gibt es gute tibetische und chinesische Restaurants.

Weitere Informationen: Der Abenteurer Thomas Bauer hat 14 Bücher über seine Touren veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Neugier auf die Welt. In 80 Rätseln um die Erde“, Periplaneta Verlag, Berlin.

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